Kirsten Harms,
Intendantin der Deutschen Oper Berlin

Kirsten Harms hat im November 2006 die Oper „Elektra“ von Richard Strauss neu inszeniert und dem Werk eine weitere Oper vorangestellt: Vittorio Gnecchis „Cassandra“. Inhaltlich ist „Cassandra“ die Vorgeschichte zu „Elektra“, behandelt sie doch den Mord Klytemnästras an ihrem Mann Agamemnon, der vor den Augen der gemeinsamen Tochter Elektra geschieht. Richard Strauss' „Elektra“ setzt Jahre später an und schildert die gemeinsame Rache der Tochter Elektra und ihres Bruders Orest an Klytemnästra.


gekürztes Interview:
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Tilo Hähnel:
Sie spielen „Elektra“ und „Cassandra“ zusammen hintereinander. Vom Werk her gesehen, ist der Hörer mit „Elektra“ schon ziemlich ausgelastet. Wie schaffen Sie es, dass man nicht damit überfordert ist, zwei Opern hintereinander zu hören?

Kirsten Harms:
Die Opern sind beide kurz. „Elektra“ ist ja ein Einakter - und „Cassandra“ ebenfalls und dauert nur 50 Minuten. Das heißt, man hat nach 50 Minuten eine Pause und dann kommt „Elektra“.

Es geht um zwei Figuren: Cassandra und Elektra. Sehen Sie in den Figuren selbst Parallelen?

Naja, insbesondere sind sich die Tochter Elektra und Mutter Klytemnästra ähnlich. In der „Cassandra“ wird die Geschichte der Mutter Klytemnästra gespielt, die ihr erstes Kind verloren hat, weil Agamemnon dieses Kind umgebracht hat und sie diese Tat nicht verwinden kann. Und in „Elektra“ ist es eben dann die nächste Generation, die über den Mord Agamemnsons, ihres Vaters, nicht hinwegkommt - auch nach Jahren nicht -, [...]

[...] Cassandra [...] ist Troerin, Troja fällt (was sie ja auch gesehen hat und ihr keiner geglaubt hat) und dann wird sie von Agamemnon geraubt. Eigentlich müsste doch der Mord an Agamemnon sie zufriedenstellen...

Ja, sie hat sich von der Geschichte her dann in ihn verliebt. Und immerhin ist Agamemnon der König der Könige, also eine der meistverehrtesten Figuren - ein Archetyp eigentlich des Kriegers und Liebhabers. [...]. Also keine Figur ist nur eindeutig negativ zugeordnet, sondern sie alle haben eben, wie das glaube ich im Menschen so angelegt ist, die Potenz, in verschiedenste Richtungen zu empfinden oder auch zu agieren.

Zwischen den beiden Opern liegen vier Jahre, aber gefühlte 40 Jahre. Strauss ist ja ungeheuer dramatisch...

Ja, Strauss ist ja aber auch mit seiner „Elektra“ wirklich besonders avantgardistisch gewesen. [...]. Also im Italienischen sind es natürlich sehr stark auch immer wieder diese Elemente des Veristischen oder Expressionistischen, vom Belcanto kommend; und die sogenannte deutsche Tradition benutzt seit Wagner eben das Drama. Das bedeutet, [...] verschiedene Stimmen können in einer Figur zum Ausdruck kommen. Das heißt auch verschiedene Emotionenn und Gefühle schlagen um von Takt zu Takt. Es ist anders von der Konstruktion, es ist eine andere Ästhetik. Andererseits haben die [beiden Opern] doch auch ähnliche Möglichkeiten mit der Instrumentierung. Da gibt es also in der „Cassandra“ schon ganz tolle Momente.

Den beiden Opern wurden ja auch musikalische Anleihen nachgesagt. Ist Ihnen das bei der Beschäftigung mit diesen beiden Stücken aufgefallen? Welche musikalischen Wendungen aus der „Cassandra“ kommen in der „Elektra“ noch vor?

Naja, die „Agamemnon“-Rufe, dann die drei „Orest“- Rufe am Schluss, der Anfangs- Akkord: „Da da di“ - beide Stücke identisch! - In Strauss etwas anders instrumentiert und ein klein bisschen anders benutzt - und es gibt also eine Unzahl von Themen, die man tatsächlich auch hört.

Strauss hatte die Rechte gekauft an der „Cassandra“- Oper?

Das müsste man nochmal genauer recherchieren, wer das genau war.

Bösartig könnte man jetzt aber nicht sagen: „Strauss hat das Werk selber aus dem Verkehr gezogen, um seine ‚Elektra‘ reiner zu präsentieren“?

Also das ist ja ein Gelehrtenstreit, das Ganze - und da würde ich als Künstlerin mich jetzt zunächst mal wirklich raushalten wollen -, wie das jetzt wirklich war. [...]. Und das allerwichtigste ist eigentlich, dass der Blick auf „Elektra“ anders ist, wenn man die Geschichte der „Cassandra“ erlebt hat.

...und der Blick auf Klytemnästra...

Und vor allen Dingen der Blick auf Klytemnästra und auch sogar auf die kleine Elektra, weil man sieht, in welcher Verstricktheit sich die Schuldigen eigentlich befinden. Und man kann sich dann nicht mehr so einfach sich auf die Seite von dem Einen oder Anderen schlagen,

[...] Wann kam diese Idee, diese beiden Opern zu verknüpfen?

In der Beschäftigung mit „Elektra“, auch in der Beschäftigung damit: „Wie finde ich einen Zugang zu diesem Stück?“ - Weil es zunächst erstmal so ist, dass man das Gefühl hat - eine dreiviertel Stunde hat man eine Hasstirade zu ertragen - der Elektra gegen diese schreckliche Mutter. [...]. Und da habe ich einen Zugang gesucht und natürlich dann in dieser aufregenden mythologischen Geschichte und Vorgeschichte gefunden. [...]


vollständiges Interview:


Tilo Hähnel:
Sie spielen „Elektra“ und „Cassandra“ zusammen hintereinander. Vom Werk her gesehen, ist der Hörer mit „Elektra“ schon ziemlich ausgelastet. Wie schaffen Sie es, dass man nicht damit überfordert ist, zwei Opern hintereinander zu hören?

Kirsten Harms:
Die Opern sind beide kurz. „Elektra“ ist ja ein Einakter - und „Cassandra“ ebenfalls und dauert nur 50 Minuten. Das heißt, man hat nach 50 Minuten eine Pause und dann kommt „Elektra“.

Es geht um zwei Figuren: Cassandra und Elektra. Sehen Sie in den Figuren selbst Parallelen?

Naja, insbesondere sind sich die Tochter Elektra und Mutter Klytemnästra ähnlich. In der „Cassandra“ wird die Geschichte der Mutter Klytemnästra gespielt, die ihr erstes Kind verloren hat, weil Agamemnon dieses Kind umgebracht hat und sie diese Tat nicht verwinden kann. Und in „Elektra“ ist es eben dann die nächste Generation, die über den Mord Agamemnsons, ihres Vaters, nicht hinwegkommt - auch nach Jahren nicht -, und deren große Emotionen dann immer wieder in Hass umschlagen. Und wenn sie nach Hass schreit, schreit sie eigentlich nach Liebe.

In der Figur der Cassandra finde ich es nicht ganz stimmig, allein schon von der Mythologie her, weil Cassandra ja eigentlich geraubt wird. Sie ist Troerin, Troja fällt (was sie ja auch gesehen hat und ihr keiner geglaubt hat) und dann wird sie von Agamemnon geraubt. Eigentlich müsste doch der Mord an Agamemnon sie zufriedenstellen...

Ja, sie hat sich von der Geschichte her dann in ihn verliebt. Und immerhin ist Agamemnon der König der Könige, also eine der meistverehrtesten Figuren - ein Archetyp eigentlich des Kriegers und Liebhabers. Und das heißt also: Auch in dieser Figur, die natürlich eigentlich eine grausame Figur ist, gibt es aber auch diese andere Seite - wie im Mythos in allen anderen Figuren auch. Also keine Figur ist nur eindeutig negativ zugeordnet, sondern sie alle haben eben, wie das glaube ich im Menschen so angelegt ist, die Potenz, in verschiedenste Richtungen zu empfinden oder auch zu agieren.

Zwischen den beiden Opern liegen vier Jahre, aber gefühlte 40 Jahre. Strauss ist ja ungeheuer dramatisch...

Ja, Strauss ist ja aber auch mit seiner „Elektra“ wirklich besonders avantgardistisch gewesen. Ja, das ist eben auch das gleiche wie zwischen Wagner und Verdi. Da würde ich jetzt allerdings vorsichtig sein, zu sagen: ‚gefühlte 40 Jahre dazwischen‘, sondern es ist einfach eine andere Tradition, ein anderer Umgang. Also im Italienischen sind es natürlich sehr stark auch immer wieder diese Elemente des Veristischen oder Expressionistischen, vom Belcanto kommend; und die sogenannte deutsche Tradition benutzt seit Wagner eben das Drama. Das bedeutet, dass eine Figur in sich selber streitbar ist. Also verschiedene Stimmen können in einer Figur zum Ausdruck kommen. Das heißt auch verschiedene Emotionenn und Gefühle schlagen um von Takt zu Takt. Es ist anders von der Konstruktion, es ist eine andere Ästhetik. Andererseits haben die [beiden Opern] doch auch ähnliche Möglichkeiten mit der Instrumentierung. Da gibt es also in der „Cassandra“ schon ganz tolle Momente.

Den beiden Opern wurden ja auch musikalische Anleihen nachgesagt. Ist Ihnen das bei der Beschäftigung mit diesen beiden Stücken aufgefallen? Welche musikalischen Wendungen aus der „Cassandra“ kommen in der „Elektra“ noch vor?

Naja, die „Agamemnon“-Rufe, dann die drei „Orest“- Rufe am Schluss, der Anfangs- Akkord: „Da da di“ - beide Stücke identisch! - In Strauss etwas anders instrumentiert und ein klein bisschen anders benutzt - und es gibt also eine Unzahl von Themen, die man tatsächlich auch hört.

Strauss hatte die Rechte gekauft an der „Cassandra“- Oper?

Das müsste man nochmal genauer recherchieren, wer das genau war.

Bösartig könnte man jetzt aber nicht sagen: „Strauss hat das Werk selber aus dem Verkehr gezogen, um seine ‚Elektra‘ reiner zu präsentieren“?

Also das ist ja ein Gelehrtenstreit, das Ganze - und da würde ich als Künstlerin mich jetzt zunächst mal wirklich raushalten wollen -, wie das jetzt wirklich war. Ich benutze diese Geschichte insofern, als dass ich glaube, dass Strauss dieses Werk faszinierend gefunden hat; und dass es ihm in jedem Fall Inspiration gewesen ist, ein ähnliches Stück - wenn auch längst mit anderen Mitteln (auch anderen kompositorischen Mitteln) - aber fortzuschreiben. Und das allerwichtigste ist eigentlich, dass der Blick auf „Elektra“ anders ist, wenn man die Geschichte der „Cassandra“ erlebt hat.

...und der Blick auf Klytemnästra...

Und vor allen Dingen der Blick auf Klytemnästra und auch sogar auf die kleine Elektra, weil man sieht, in welcher Verstricktheit sich die Schuldigen eigentlich befinden. Und man kann sich dann nicht mehr so einfach sich auf die Seite von dem Einen oder Anderen schlagen, oder „die Welt...“, wie das bei Strauss ja heißt - oder von Hofmannsthal so eindringlich gedichtet wurde -, nämlich „...in Gut und Böse einteilen“. Klytemnästra beklagt das da, dieses ständige abfällige Reden über was „Gut“ und was „Schlecht“ ist. Und was die Wahrheit ist, sagt sie, das bringt kein Mensch heraus. Die Wahrheit ist so schwierig zu beschreiben, dass ihr die Worte dann verstummen.

Sie haben versucht, die Wahrheit mittels der „Cassandra“ herauszubringen. Wann kam diese Idee, diese beiden Opern zu verknüpfen?

In der Beschäftigung mit „Elektra“, auch in der Beschäftigung damit: „Wie finde ich einen Zugang zu diesem Stück?“ - Weil es zunächst erstmal so ist, dass man das Gefühl hat - eine dreiviertel Stunde hat man eine Hasstirade zu ertragen - der Elektra gegen diese schreckliche Mutter. Und ich habe mich gefragt: „Was ist das Faszinierende daran, dass dieser Mythos so oft komponiert und umgedichtet wurde über Jahrtausende? Was macht ihn denn eigentlich spannend?“ Und da habe ich einen Zugang gesucht und natürlich dann in dieser aufregenden mythologischen Geschichte und Vorgeschichte gefunden. Und die jetzt zu erzählen, das reizt mich. - Und eben zu schauen, wie das Publikum dann „Elektra“ erleben wird.


Das Interview wurde am 06.November.2007 auf RADIOROPA Berlin gesendet.